Im Rahmen unserer Lernreise „Fit bei hoher Arbeitsbelastung“ durfte ich in diesem Jahr einen Mann im Coaching begleiten, dessen Erschöpfung für mich zunächst ein Rätsel blieb. Er war strukturiert, sorgte gut für sich, setzte klare Grenzen und fand Freude an seiner Arbeit. Auch seine familiäre Situation schien stabil zu sein. Doch trotzdem fühlte er sich innerlich völlig erschöpft.

Was kostete ihn so viel Energie?

In einer der nächsten Sitzungen teilte er mit mir eine Wahrheit, die für ihn schwer auszusprechen war: Er hatte vor Jahren ein Kind verloren. Nach einer gewissen Trauerzeit schlich sie bei ihm selbst und in seinem Umfeld die Erwartung ein, dass er nun damit klar käme. Immerhin hatte er ein gutes Leben, einen stabilen Alltag, eine gesunde Familie. Und doch war da der Schmerz, tief und allgegenwärtig. Jedes Mal, wenn er an seinen Sohn dachte, rissen kleine Wunden auf. Anstatt mit der Zeit abzunehmen, wuchs das Unbehagen in ihm. Mit dem Wachsen seiner anderen Kinder wuchs auch die Wehmut über all die verpassten Momente mit seinem Sohn. 

Ich war tief berührt von seinem Vertrauen, mir diesen Teil seines Lebens anzuvertrauen. Und ich war nachdenklich über eine Gesellschaft, die häufig annimmt, die Zeit würde alle Wunden heilen. Die Toten werden jedoch immer vermisst werden. Der Schmerz und die Trauer bleiben. Wenn diese Realität keinen Raum erhält, kann sie Menschen innerlich erschöpfen.

Der Wert des Gedenkens: Raum für Trauer schaffen

Unsere Traditionen im November, der mit Allerseelen beginnt, dem katholischen Totengedenktag und mit dem Ewigkeitssonntag endet, dem evangelischen Totengedenktag, erinnern uns daran, innezuhalten und uns an unsere Verstorbenen zu erinnern. Diese Tage schaffen Raum, um Abschied zu nehmen und dem Schmerz sein Recht zu geben. Mehrere Dinge machen diese Zeit besonders wertvoll:

  • Gemeinschaftliche Trauer – Wir trauern gemeinsam und sind damit nicht allein. Die meisten Menschen kennen den Schmerz des Verlusts.
  • Ein klarer Raum und Rahmen – Ständiges Bewusstmachen des Schmerzes kann ebenso überfordern wie das Verdrängen. Ein geschützter Raum für die Trauer, der klar definiert ist, kann helfen, den Schmerz auf eine Weise zu spüren, die Kraft spendet statt zu erschöpfen. Solche gesellschaftlichen traditionen sind wertvoll.
  • Wiederkehrende Erinnerung – Diese Gedenktage kommen jährlich wieder. Dadurch entsteht ein Raum für Trauer, der nie „abgeschlossen“ ist, sondern Teil des Lebens bleibt.

Auch im Coaching gelang es dem Mann, einen geschützten Rahmen zu finden, in dem er seine Trauer spüren und leben konnte. So kehrte nach und nach die Kraft in seinen Alltag zurück.

Ich wünsche jedem Menschen den Mut, in diesen Tagen Raum für die eigene Trauer zu schaffen und zu nutzen – und die Kraft zu spüren, die daraus entstehen kann.